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 Beileid 26.10.2002 (20:16 Uhr) Reginanoack
 Re: Beileid 27.10.2002 (21:56 Uhr) Reginanoack
 Re: Beileid 28.10.2002 (07:01 Uhr) Reginanoack
Ich erlaube mir hier die Wiedergabe eines Artikels aus der FAZ von heute, die die Situation nochmals zusammenfassend darstellt.
Regina


Quelle:

http://www.faz.net/IN/Intemplates/faznet/default.asp?tpl=faz/content.asp&rub={B02AFBB3-E1E0-4556-B06E-092A3599848A}&doc={28596EE3-7FDF-44B4-B878-FAC4A3E9C643}

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Keine Schwäche zeigen

Der russische Staat feiert die Beendigung der Geiselnahme als Erfolg / Nur spärliche Auskünfte / Von Markus Wehner


MOSKAU, 27. Oktober. Der Sturm war gut vorbereitet. In den Nächten zuvor hatten die Spezialkräfte unter strenger Geheimhaltung geübt - am Kulturzentrum "Meridian" im Südwesten Moskaus, das dem Gebäude, in dem mehr als 800 Geiseln von den tschetschenischen Terroristen festgehalten wurden, ähnelt. Hinterher waren die Sicherheitskräfte zufrieden mit ihrer Leistung. Das Fernsehen zeigte die Bomben, deren Zündung verhindert worden war - und trotzdem wuchsen in Moskau schnell die Zweifel, ob tatsächlich das Leben der Geiseln im Vordergrund gestanden hatte.

Schon am Freitag abend hatten sich die Hinweise verdichtet, daß man in der Nacht stürmen würde. Die Annahme lag nicht fern - schließlich hatten die Geiselnehmer angekündigt, am Samstag morgen um sechs Uhr mit der Erschießung der Geiseln zu beginnen. Wie ernst diese Ankündigung war, wußte niemand. Zwar hatten die Terroristen schon eine 26 Jahre alte Russin erschossen. Aber die war, nachdem sie zu Beginn der Geiselnahme entkommen war, selbständig nach einigen Stunden zu dem Haus zurückgekehrt - die Geiselnehmer erschossen sie als "Agentin des FSB", des russischen Geheimdienstes.

Die Verhandlungen mit den Geiselnehmern dienten dazu, Zeit für die Vorbereitung zum Sturm zu gewinnen. Sich mit ihnen einigen zu können schien aussichtslos. Sie waren als Selbstmordkommando gekommen, das auf das Kommando des menschenverachtenden und kompromißlosen Feldkommandeurs Schamil Bassajew hörte - so hatten die Geiselnehmer es in einem Fernsehinterview dem Sender NTW erzählt, das erst nach der Befreiung ausgestrahlt wurde. Präsident Putin hatte es von Anfang an abgelehnt, den Forderungen der Geiselnehmer nachzugeben und einen bevollmächtigten Vertreter für die Verhandlungen zu benennen. Das hätte als Zeichen der Schwäche betrachtet werden können, als Einlenken auf die Kommandos eines Bassajew. Die Geiselnehmer selbst hatten nur den tschetschenischen Duma-Abgeordneten Aslachanow und die Journalistin Anna Politkowskaja als Verhandlungspartner genannt - alle anderen waren ihnen von den Geiseln vorgeschlagen worden. Ihre Aufgabe war es, über die Freilassung von Geiseln zu verhandeln. Etwa fünfzig Geiseln ließen die Entführer frei, anderen gelang die Flucht aus dem Gebäude.

Anders als behauptet waren die Terroristen von ihrer nicht erfüllbaren Maximalforderung, einem Abzug der russischen Streitkräfte aus Tschetschenien, abgegangen. Sie verlangten später eine Einstellung der sogenannten "Säuberungen" in ihrer Heimat, berichtet der liberale Abgeordnete Boris Nemzow, der mit einigen der Geiselnehmer verhandelte. Man einigte sich darauf, daß sie für jeden friedlichen Tag in Tschetschenien ohne Säuberungen Geiseln freilassen würden. Doch, so sagt Nemzow, sie hielten sich nicht daran und verwiesen ihn an ihren Führer Bassajew. Wie zugänglich oder unzugänglich die Geiselnehmer auch gewesen sein dürften, die Entscheidung, das Gebäude zu stürmen, war offenbar schon längst gefallen.

Die ersten Schüsse fielen jedoch nicht um sechs Uhr, wie die Terroristen es angekündigt hatten, sondern etwa drei Stunden vorher. Zwei Geiseln hatten versucht, selbständig aus dem Gebäude zu fliehen - die Tschetschenen eröffneten das Feuer auf sie. Eine halbe Stunde später konnten die schwerverletzten Geiseln von einem Rettungswagen abgeholt werden.

Für die Spezialeinsatzkräfte war der Zwischenfall offenbar der Anlaß zum Sturm, der möglicherweise eigentlich hätte etwas später beginnen sollen. Der stellvertretende Chef des FSB, Wladimir Pronitschew, traf die letzten Absprachen mit dem Kreml, um 5.20 Uhr wurde das Kommando zum Sturm gegeben. Eine Gruppe der Sondereinheiten drang offenbar durch die unterirdischen Schächte in das Gebäude ein. Eine zweite Gruppe kam durch eine Seite des Gebäudes, sprengte dafür offenbar ein Loch in die Wand. Die dritte nahm den Weg durch das Foyer.

Gas wurde durch das Lüftungssystem eingeleitet, zudem wurden Gasgranaten in den Saal geworfen. Um 5.30 Uhr erreichte das Radio "Echo Moskwy" ein Anruf zweier weiblicher Geiseln. "Sie leiten Gas ein. Sie wollen uns vergasen", riefen sie. Die Geiseln, die meisten von ihnen schliefen, bekamen kaum mit, was geschah. Das Gas wirkte schnell, allen wurde schlecht, sie konnten sich sofort nicht mehr bewegen, die meisten verloren das Bewußtsein. Fast alle Toten, so sagen die Ärzte in den Moskauer Krankenhäusern, sind durch das Gas gestorben. "Die Leute waren nach drei Tagen Gefangenschaft physisch und moralisch am Ende, für die Konsequenzen des Einsatzes konnte da keiner die Garantie übernehmen", wird ein Teilnehmer des Sturms von der Zeitung "Kommersant" zitiert. Was für ein Gas eingesetzt wurde, sagen die russischen Behörden nicht.

Die meisten Geiselnehmer im Saal, vor allem Frauen, wurden durch das Gas ebenfalls sofort bewußtlos. Sie hatten mit dem Sturm nicht gerechnet. "Das Wichtigste war, daß wir den psychologischen Krieg gewonnen haben", berichtet ein Mitglied der Spezialeinheit "Alpha". "Wir haben das Gerücht lanciert, daß der Sturm um drei Uhr nachts beginnt. Die tschetschenischen Kämpfer haben sich darauf eingestellt, aber es gab keinen Sturm. Dann haben sie sich entspannt, und wir haben um fünf gestürmt." Nach Aussagen dieses Mannes war die wichtigste Aufgabe, die Frauen als erste zu töten. "Wir haben den schlafenden Terroristinnen direkt in die Schläfe geschossen." Eine andere Möglichkeit, sie außer Gefecht zu setzen, habe man nicht gesehen, da sie Sprengstoff am Körper trugen. Im Saal begann Panik, da nicht alle Geiseln sofort durch das Gas gelähmt waren. Sie stürmten zum Ausgang, der jedoch von den Spezialkräften blockiert war. Es begann angeblich eine chaotische Schießerei, bei der es aber wenig verletzte Geiseln gegeben haben soll.

Eine andere Gruppe von Soldaten lieferte sich unterdessen im Foyer ein Feuergefecht mit den übrigen Geiselnehmern und tötete sie. Offenbar war der Befehl gegeben worden, alle Terroristen zu erschießen. Nach offiziellen Angaben wurden fünfzig getötet, nur drei festgenommen. Während der FSB behauptete, alle Terroristen seien getötet worden, nehmen die Einsatzkräfte an, daß einige fliehen konnten. Auch der Anführer des Kommandos, Mowsar Barajew, wurde im Foyer erschossen, jemand stellte eine Flasche Cognac neben seine Hand. Die Bilder wurden später im Fernsehen gezeigt, so, wie man alle getöteten Terroristen immer wieder in Großaufnahme den Zuschauern präsentierte. Der Saal bot nach dem Angriff ein Bild des Schreckens - riesige Lachen von Blut, gesplittertes Glas, gebrauchte Spritzen.

Eine halbe Stunde nach der Operation wurden die Geiseln herausgebracht. Viele taumelten, noch mehr konnten nicht mehr gehen. Man lud sie in Rettungswagen und in Busse, da die hundert Rettungswagen nicht ausreichten. Einige hundert Meter vom Gebäude entfernt begannen die Rettungsmannschaften Tote von bewußtlosen Verletzten zu trennen. Denjenigen, die man sofort künstlich beatmete und denen man Gegenmittel spritzte, konnten gerettet werden. Doch bei vielen gelang das offenbar nicht. Etwa zweihundert Geiseln wurden bewußtlos ins Krankenhaus gebracht. Ein Arzt beschrieb den Zustand dieser Patienten als "schwer bis katastrophal". Das Gesundheitsministerium mußte im Laufe des Wochenendes die Zahl der Toten immer wieder nach oben korrigieren.

Der stellvertretende Innenminister Wladimir Wassiljew bestritt stundenlang nach Ende der Operation, daß Gas eingesetzt wurde. Schließlich sah er sich gezwungen, die Anwendung von "Sondermitteln" einzugestehen. Hunderte von Moskauern suchten noch am Sonntag ihre Angehörigen, die tot oder im Krankenhaus waren. Doch Auskünfte konnten kaum erteilt werden, und die Angehörigen wurden, wenn sie die Gesuchten gefunden hatten, nicht in Krankenhäuser gelassen. Bis zum Nachmittag durfte auch niemand die Kliniken verlassen. Angeblich aus Sicherheitsgründen, denn es könnten sich Terroristen unter den geretteten verstecken, hieß es. Die Ärzte wurden angehalten, keine Angaben zu machen. Doch das Bild einer erfolgreichen Operation brach am Sonntag nach und nach zusammen. Der Menschenrechtler Sergej Kowaljow sagte, wieder einmal sei der Schutz von Menschenleben nicht die Priorität der Regierung gewesen. Man wird darüber streiten können. Doch eine "glänzende Operation", wie der Moskauer Oberbürgermeister Luschkow die Geiselbefreiung genannt hatte, war dieser Sturm nicht. Die russischen Fernsehkanäle brachten am Sonntag Spielfilme statt, wie in den Tagen zuvor, Sondernachrichten. Unbequeme Fragen sollen nicht gestellt werden. Wieder alles normal in Moskau.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.2002, Nr. 250 / Seite 3

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