| Jakob van Hoddis Dichter
1887 16. Mai: Jakob van Hoddis (eigtl. Hans Davidsohn) wird in Berlin als ältester Sohn des jüdischen Arztes Hermann Davidsohn und dessen Frau Doris (geb. Kempner) geboren. Der Zwillingsbruder stirbt bei der Geburt. Van Hoddis wächst mit 4 Geschwistern auf.
1905 Er verläßt das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und bereitet sich als Externer auf das Abitur vor.
1906 Nach dem Abitur beginnt van Hoddis, an der Technischen Hochschule Charlottenburg Architektur zu studieren.
1907 Bekanntschaft mit dem Publizisten Kurt Hiller (1885-1972).
1908 Er bricht sein Architekturstudium ab und wendet sich in Jena der Klassischen Philologie zu. Im Wintersemester beginnt van Hoddis das Studium der Altphilologie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität. Um 1908 wird der Beginn seines literarischen Schaffens angesetzt.
1909 Er gründet mit Hiller, Erwin Loewenson (1888-1963) und anderen Schriftstellern den literarischen "Neuen Club". Verschiedene literarische Abende werden unter der Bezeichnung "Neopathetisches Cabaret" organisiert. Bei den Treffen trägt van Hoddis eigene Gedichte vor. Er nimmt das Pseudonym van Hoddis an, das ein Anagramm (Buchstabenversetzrätsel) von Hans Davidsohn ist.
1911 Sein Gedicht "Weltende", das viele Literaturkritiker als den Grundstein des Frühexpressionismus verstehen, erscheint in der Zeitschrift "Der Demokrat". Dieses Gedicht vor allem wird van Hoddis zu einer gewissen Berühmtheit in Intellektuellen- und Künstlerkreisen verhelfen. Doch nur ein kleiner Teil seiner Gedichte wird in verschiedenen Zeitschriften wie "Der Demokrat" und in Franz Pfemferts (1879-1954) "Aktion" veröffentlicht. Er wird wegen "Unfleißes" von der Universität exmatrikuliert. Van Hoddis reist nach München.
1912 Er wendet sich katholischen Kreisen zu und durchlebt offenbar eine psychische Krise mit psychotischen Episoden. Ab September begibt er sich freiwillig zur Behandlung in ein Kurhaus in Wolbeck bei Münster. Nachdem er nach Berlin zurückgekehrt ist und seine Mutter bedroht haben soll, wird van Hoddis in die Heilanstalt "Waldhaus" in Nikolassee bei Berlin zwangseingeliefert. Noch im selben Jahr flieht er.
1913 Nach Aufenthalten in Heidelberg, München und Paris kehrt er nach Berlin zurück.
1914 Bei verschiedenen Autorenabenden trägt van Hoddis seine Gedichte vor. Er trennt sich vom "Neuen Club" und wendet sich den Autorenabenden der "Aktion" zu.
1915 Van Hoddis begibt sich in private Pflege. Sein Bruder Ludwig fällt im Ersten Weltkrieg.
1917 Gedichte von van Hoddis werden in der "Galerie Dada" in Zürich von einer Freundin vorgetragen. In der Folge werden seine Gedichte von Dadaisten und Surrealisten begeistert aufgenommen.
1918 Die einzige zu van Hoddis´ Lebzeiten erscheinende Buchpublikation wird von Pfemfert in der Reihe "Der rote Hahn" unter dem Titel "Weltende" herausgebracht.
1920 Gedichte von van Hoddis erscheinen in "Menschheitsdämmerung", einer von dem Literaturhistoriker Kurt Pinthus (1886-1975) herausgegebenen Anthologie.
1921 Sein Bruder Ernst emigriert nach Palästina.
1922 Er kommt in private Pflege nach Tübingen.
1927 15. Juni: Nach einem Streit mit Nachbarn wird van Hoddis in die Universitäts-Nervenklinik Tübingen gebracht, von wo er in die Privatklinik für Gemüts- und Nervenkranke in Göppingen verlegt wird. Van Hoddis wird entmündigt, sein Onkel übernimmt die Vormundschaft.
1933 Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wandert van Hoddis´ verwitwete Mutter, Doris Davidsohn, mit ihren Töchtern Marie und Anna nach Palästina aus. 29. September: Er wird in die israelitische Kuranstalt nach Bendorf-Sayn bei Koblenz eingewiesen, in die ab 1940 alle jüdischen Geisteskranken gebracht werden.
1942 30. April: Deportation nach Polen. Jakob van Hoddis wird im Mai oder Juni im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
1958 Postum erscheint "Weltende. Gesammelte Dichtungen", herausgegeben von Paul Pörtner.
1987 Die gesammelten Gedichte und Briefe erscheinen in "Jakob van Hoddis. Dichtungen und Briefe", herausgegeben von Regina Nörtemann.
2001 Vom 10. Juni bis 31. August findet die erste wissenschaftliche Ausstellung über Jakob van Hoddis im Centrum Judaicum Berlin statt.
Aurora
Nach Hause stiefeln wir verstört und alt, die grelle, gelbe Nacht hat abgeblüht. Wir sehn, wie über den Laternen, kalt und dunkelblau, der Himmel droht und glüht.
Nun winden sich die langen Straßen, schwer und fleckig, bald, im breiten Glanz der Tage. Die kräftige Aurore bringt ihn her, mit dicken, rotgefrorenen Fingern, zage.
Morgens
Ein starker Wind sprang empor. Öffnet des eisernen Himmels blutende Tore. Schlägt an die Türme. Hellklingend laut geschmeidig über die eherne Ebene der Stadt. Die Morgensonne rußig. Auf Dämmen donnern Züge. Durch Wolken pflügen goldne Engelpflüge. Starker Wind über der bleichen Stadt. Dampfer und Kräne erwachen am schmutzig fließenden Strom. Verdrossen klopfen die Glocken am verwitterten Dom. Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehn. Im bleichen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn. Glieder zur Liebe geschaffen. Hin zur Maschine und mürrischem Mühn. Sieh in das zärtliche Licht. In der Bäume zärtliches Grün. Horch! Die Spatzen schrein. Und draußen auf wilderen Feldern singen Lerchen.
Der Todesengel
I
Mit Trommelwirbeln geht der Hochzeitszug, in seidner Sänfte wird die Braut getragen, durch rote Wolken weißer Rosse Flug, die ungeduldig goldne Zäume nagen.
Der Todesengel harrt in Himmelshallen als wüster Freier dieser zarten Braut. Und seine wilden, dunklen Haare fallen die Stirn hinab, auf der der Morgen graut.
Die Augen weit, vor Mitleid glühend offen wie trostlos starrend hin zu neuer Lust, ein grauenvolles, nie versiegtes Hoffen, ein Traum von Tagen, die er nie gewußt.
II
Er kommt aus einer Höhle, wo ein Knabe ihn als Geliebte wunderzart umfing. Er flog durch seinen Traum als Schmetterling und ließ ihn Meere sehn als Morgengabe.
Und Lüfte Indiens, wo an Fiebertagen das greise Meer in gelbe Buchten rennt. Die Tempel, wo die Priester Zimbeln schlagen, um Öfen tanzend, wo ein Mädchen brennt.
Sie schluchzt nur leise, denn der Schar Gesinge zeigt ihr den Götzen, der auf Wolken thront und Totenschädel trägt als Schenkelringe, der Flammenqual mit schwarzen Küssen lohnt.
Betrunkne tanzen nackend zwischen Degen, und einer stößt sich in die Brust und fällt. Und während blutig sich die Schenkel regen, versinkt dem Knaben Tempel, Traum und Welt.
III
Dann flog er hin zu einem alten Manne und kam ans Bett als grüner Papagei. Und krächzt das Lied: »O schmähliche Susanne!« Die längst vergessne Jugendlitanei.
Der stiert ihn an. Aus Augen glasig blöde blitzt noch ein Strahl. Ein letztes böses Lächeln zuckt um das zahnlose Maul. Des Zimmers Öde erschüttert jäh ein lautes Todesröcheln.
IV
Die Braut friert leise unterm leichten Kleide. Der Engel schweigt. Die Lüfte ziehn wie krank. Er stürzt auf seine Knie. Nun zittern beide. Vom Strahl der Liebe, der aus Himmeln drang. Posaunenschall und dunkler Donner lachen.
Ein Schleier überflog das Morgenrot. Als sie mit ihrer zärtlichen und schwachen Bewegung ihm den Mund zum Küssen bot.
Der Träumende
Blaugrüne Nacht, die stummen Farben glimmen. Ist er bedroht vom roten Strahl der Speere und rohen Panzern? Ziehn hier Satans Heere? Die gelben Flecke, die im Schatten schwimmen, sind Augen wesenloser großer Pferde. Sein Leib ist nackt und bleich und ohne Wehre. Ein fades Rosa eitert aus der Erde.
Der Visionarr
Lampe blöck nicht. Aus der Wand fuhr ein dünner Frauenarm. Er war bleich und blau geädert. Die Finger waren mit kostbaren Ringen bepatzt. Als ich die Hand küßte, erschrak ich: Sie war lebendig und warm. Das Gesicht wurde mir zerkratzt. Ich nahm ein Küchenmesser und zerschnitt ein paar Adern. Eine große Katze leckte zierlich das Blut vom Boden auf. Ein Mann indes kroch mit gesträubten Haaren einen schräg an die Wand gelegten Besenstiel hinauf.
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, in allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Es hebt sich ein rosa Gesicht ...
Es hebt sich ein rosa Gesicht Von der Wand. Es strahlt ein verwegenes Licht Von der Wand. Es kracht mir der Schädel Beim Anblick der Wand. Es träumt mir ein Mädel Beim Anblick der Wand.
O Wand, die in meine leblosen Stunden starrt Wand, Wand, die meine Seele mit Wundern genarrt Mit Langeweile und grünlichem Kalk Mein Freund. Meiner Wünsche Dreckkatafalk.
Soeben erscheint mir der Mond An der Wand. Es zeigt mir Herr Cohn seine Hand An der Wand. Es schnattert wie Schatten Pretiös an der Wand.
Verflucht an der Wand! Und heut an der Wand! Was stehen denn so viel Leut An der Wand?
Andante
Aufblühen Papierwiesen Leuchtend und grün, Da stehen drei Kühe Und singen kühn:
»O Wälder, o Wolken, O farbige Winde, Wir werden gemolken Geschwinde, geschwinde ...
In goldene Eimer Fließt unser Saft. In farbige Reimer Ergießt unsere Kraft.
Wir stehen hier, im Chor beisammen, Auf knotigem Beine Und die Kräfte der Erde sind Angesammelt zu frohem Vereine.«
Sie bocken bei Tag und sie trillern bei Nacht.
Die Gedichte Aurora, Morgens, Der Todesengel, Der Träumende, Der Visionarr und Weltende wurden der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (Einleitung von Gottfried Benn) entnommen, die im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen ist (sr 4, 1962). Die Gedichte Es hebt sich ein rosa Gesicht ... und Andante stammen aus Deutsche Gedichte von 1900 bis zur Gegenwart, herausgegeben von Fritz Pratz (erweiterte Neuausgabe, Fischer Taschenbuch Verlag 1971).
Zusammengestellt von Johannes Beilharz im August 2000.
|