Tinnitus / Ohrgeräusche
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Hallo,

Vor relativ kurzer Zeit trat die Medizinische Hochschule Hannover mit einer Veröffentlichung über das sogenannte
"therapeutische Stufenkonzept" bei akutem und chronischem Tinnitus an die Öffentlichkeit:
http://link.springer-ny.com/link/service/journals/00106/bibs/1049002/10490093.htm

Dies Konzept besteht aus:
1. Infusionen mit Procain / Dextran (der übliche durchblutungsfördernde/membranstabilisierende Kram)
2. bei Mißerfolg Infusionen mit Glutamatdiethylester (GDEE) gefolgt von Glutamat (Ehrenberger-Brix-Schema)
3. bei Mißerfolg Lidocain-Test und evt. orale Gabe von Tocainid (geringe Akzeptanz wird eingeräumt)

Bei bereits mit Standard-Infusionen behandelten chronischen Patienten kann Schritt 1. offenbar ausgelassen werden.

In diesem Zusammenhang wurde betont, daß bei angeblich 15,6% der chronischen (!) Tinnituspatienten langfristige
Erfolge erzielt werden konnten.

Hierzu möchte ich einiges feststellen:
Zu Schritt 1:
- Die Gabe von Procain und Dextran bei akutem Hörsturz und/oder Tinnitus ist umstritten. Eine relativ große Doppel-Blind-Studie
konnte keine höhere Wirkung bei Dextran als bei Placebo feststellen, und das wie gesagt bei akuten Beschwerden:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?cmd=Retrieve&db=PubMed&list_uids=1279928&dopt=Abstract
- Die Autoren geben für Procain drei Literaturangaben an. Die erste Angabe bezieht sich auf M. Meniere. Die zweite
Angabe ist aus dem Jahr 1937 (!). Die dritte Angabe ist eine relativ kleine Doppel-Blind-Studie, die keine über Placebo liegende
Wirkung für Procain feststellen konnte.
- Was der Sinn und Zweck entsprechender Infusionen bei bislang unbehandeltem chr. Tinnitus (im Gegensatz zu akutem Tinnitus) sein soll, bleibt das Geheimnis
der Autoren.

Zu Schritt 2.:
- Die Wirksamkeit von Glutamat/Glutamatdiethylester ist unbewiesen, da niemals eine Doppel-Blind-Studie durchgeführt worden ist.  Auch Placebos können Erfolg bei chronischem Tinnitus haben:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?cmd=Retrieve&db=PubMed&list_uids=6440090&dopt=Abstract
- Schon früh kamen Zweifel an der angeblich hohen Erfolgsquote, wie sie Ehrenberger und Brix beschrieben habe, auf. So z.B. bei
McIlwain (1987) oder Herz (1998). Übrigens stellt Herz bei zwei seiner Patienten Fieber nach den Infusionen fest.

Zu Schritt 3.:
- Lidocain-Test und orale Gabe von Tocainid sind wegen Nebenwirkungen im höchsten Maß umstritten:
http://link.springer-ny.com/link/service/journals/00106/bibs/7045002/70450069.htm

Zusammenfassend zu den Endergebnissen bei chronischem Tinnitus:
- Die Patientenzahl ist mit 32 extrem klein, Prozentzahlen sind hier eher irreführend. Ich gehe gleich noch näher darauf
ein und rechne aus, wie viele Patienten hinter den jeweiligen Ergebnissen in Wahrheit stecken.
- Die Patienten sind im höchsten Maß selektioniert. Es handelt sich bei den chronischen Tinnituspatienten um Personen, die trotz bekanntermaßen schlechter
Erfolge zur medikamentösen Behandlung die MHH aufsuchten. Fast die Hälfte der Leute (chronisch und akut), denen die über Schritt
1 hinausgehende medikamentöse Behandlung angeboten worden war, lehnten jedoch schon im Vorfeld ab (29 Patienten). Es darf deshalb berechtigter
Zweifel daran gehegt werden, daß die behandelten Patienten in irgendeiner Form repräsentativ sind.
- Wenn man die Prozentzahlen der chronischen Patienten auf Personenzahlen umrechnet, kommt man auf folgende Ergebnisse:
Verschwunden: 0% (= 0 Patienten)
Gebessert: 15,6% (= 5 Patienten)
Kein Effekt: 75% (= 24 Patienten)
Verschlechtert: 9,4% (=3 Patienten)

Schon an dieser Stelle sieht man, daß der Unterschied zwischen Verbesserung und Verschlechterung in Wahrheit
verschwindend gering ist. Aber es kommt noch erheblich besser:

Die in der HNO veröffentlichte Studie ist in Wahrheit keineswegs die erste Veröffentlichung dieser Untersuchung. Nein,
man findet die gleichen Patientendaten sehr viel ausführlicher in einer Doktorarbeit der MHH aus dem Jahr 1996 wieder! Beide
Studien untersuchen nach eigenen Worten "zwischen Februar 1993 und Mai 1994 123 konsektutive Patienten, die wegen eines
akuten oder chronischen Tinnitus die Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde der Medizinischen Hochschule Hannover aufsuchten".

Und nun frag Ihr Euch sicher, warum ich mich hierüber so empöre. Der Grund ist sehr einfach: Erstens unterschlägt die Studie aus dem
Jahr 2001 vollkommen die Tatsache, daß es bereits eine andere Veröffentlichung zu den gleichen Patienten gibt. Und zweitens habe ich
den Eindruck, daß das sehr bewußt geschieht, denn ein Vergleich der Daten beider Untersuchungen ergibt mehr als erstaunliche Ergebnisse:

Die Nachfolgeuntersuchung der Doktorabeit enthält nämlich nicht die Daten von 32, sondern von 36 chr. Patienten!!! Und noch dazu
teilt man hier den Erfolg in "erheblich" und "leicht" ein. Hier die Daten zum Therapieerfolg aus der Doktorarbeit (chonischer Tinnitus):
erheblich:  2,8% (= 1 Patient)
leicht: 11,1% (= 4 Patienten)
kein: 75% (27 Patienten)
Verschlechterung: 11,1% (= 4 Patienten)

Gut, daß wir verglichen haben!

Viele Grüße
Christian
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