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LUCKENWALDE Harald Steinke ist der Mann, der zehn Jahre lang fast unbemerkt in Erdlöchern auf der Mülldeponie in Luckenwalde (Teltow-Fläming) lebte. Vor wenigen Tagen stellte sich der 51-Jährige der Polizei und zog unter sein bisheriges Leben einen Schlussstrich (die MAZ berichtete).

Früher führte der gebürtige Luckenwalder ein ganz normales Leben.  Er war Dreher im ehemaligen Wälzlagerwerk, wohnte mit Frau und Sohn auf eigenem Grundstück.  ,,Das ging alles krachen'', erzählt er.  Er verlor Familie, Haus und Arbeit.  Nach der Wende wohnte er allein in einer Wohnung.  Als ihm die gekündigt wurde, zog er vorübergehend zu einem Freund.  Weil es dort zu ,,stressig'' zuging, stromerte er herum.  Er übernachtete zunächst in Fahrzeug-Wracks unweit der Müllkippe.

Eines Tages — er weiß selbst nicht mehr genau wann, nur dass es 1993 war — buddelte er sich auf dem Deponiegelände eine Behausung.  ,,Von den Russen hatte ich mir früher abgeschaut, wie Erdhöhlen richtig gebaut werden'', berichtet Steinke.  Innen kleidete er alles wasserdicht aus.  ,,Ich habe im Winter nicht gefroren und im Sommer nicht geschwitzt''.

Warum er sich aus eigenem Willen jahrelang von der Außenwelt isolierte, gibt er nicht gern preis.  Er habe sich aus Angst vor einem bestimmten Menschen versteckt.  Mehr will er dazu nicht sagen.  Anfangs fürchtete er, entdeckt zu werden.  Nach und nach fühlte er sich auf dem Deponiegelände sicher.  Durch die Umzäunung konnte ihm weder von Mensch noch Tier Gefahr drohen.  Sein einziger Mitbewohner war eine zahme Maus.


Im Jahr 1994 entdeckt

1994 wurde Harald Steinke schon einmal entdeckt.  Das Deponiepersonal forderte ihn damals auf, sein Erdloch zuzuschütten und zu verschwinden.  Das tat er auch.  Aber: ,,20 Meter weiter habe ich die nächste Höhle gebaut'', erinnert sich Steinke.  Wurde es ihm an einer Stelle zu betriebsam, baute er an einer anderen die nächste Höhle.  In sechs verschiedenen Behausungen hinterließ er am Deponierand seine Spuren.

Am Tage schlief er oder verhielt sich ruhig in seinem höchstens meterhohen Erdloch.  Sobald die Deponiearbeiter Feierabend hatten, streifte er über die Halde.  Er fand alles, was er zum Überleben brauchte:  Essen in Büchsen, abgepackte Wurst, Brot, Butter, Schokolade.  Über Kerzenlicht kochte er Kaffee oder machte sich im Topf das Essen warm.  Selbst ausgefallene Nudelgerichte und Quetschkartoffeln standen auf seinem Speiseplan.  Sein Lieblingsgericht Milchnudeln brachte er allerdings nie zustande.

Harald Steinke sammelte Zigarettenkippen, pusselte sie auseinander und drehte sich aus dem Tabak neue Zigaretten.  Er wusch sich im benachbarten Stalag-See.  Ordentliche Kleidung holte er von der Halde, selbst Lederjacken.  Aus Altkleidercontainern habe er nie etwas genommen, beteuert er.  Steinke ist entsetzt, wie viele gut erhaltene Sachen weggeworfen werden.  Er fand Werkzeug, Möbel, ein Fernglas, jede Menge funktionstüchtige Radios und Batterien.  Er löste Kreuzworträtsel, las Bücher und alle Zeitungen, die er finden konnte.  Manche Neuigkeit erfuhr er aus der MAZ.  So war er immer auf der Höhe der Zeit.  ,,Ich wusste jeden Tag, welches Datum wir haben, kannte auch genau die Feiertage.''

Einen Arzt hat der Überlebenskünstler in den zehn Jahren nicht gesehen.  ,,Was Erkältungen betrifft, bin ich irgendwie immun'', erzählt er.  Nur einmal habe ihn eine Grippe erwischt.  Er lag mit Fieber in seinem Wohnloch.  Tabletten hat er sich von der Müllkippe geholt und ,,extra auf das Verfallsdatum geachtet''.

Harald Steinke lebte nicht völlig ohne menschliche Kontakte.  Zwei Vertraute aus Luckenwalde brachten ihm gelegentlich Essen zur Deponie.  Für das Geld, das er nach und nach auf der Deponie fand, kauften sie für ihn Tabak und Kaffee.  Seine wenigen D-Mark tauschten sie in Euro um.  Sogar ein Handy ließ Steinke sich besorgen.  Selbst einkaufen ging er nie und verließ auch die Deponie nicht weiter als ein paar Meter.  Von seinen Bekannten erfuhr Harald Steinke auch, dass die Deponie im Jahr 2005 geschlossen und dann langsam zugeschüttet wird.

Trotz dieser Kontakte bedrückte ihn die Einsamkeit.  Besonders schlimm war es zu Weihnachten.  Die Feiertage ertrug er nur mit einer Flasche Alkohol, den er sonst eher mied.  Und an jedem 30. Dezember, seinem Geburtstag — ,,da habe ich geheult.''

Seit zwei Jahren trug sich Steinke mit dem Gedanken, sich zu erkennen zu geben, hatte aber dazu nicht den Mut.  Als zu Beginn dieses Jahres der Zaun versetzt und näher an seine Höhle gerückt wurde, machte er sich für drei Tage aus dem Staub.  Bei minus elf Grad lag er in zwei Wolldecken in einem benachbarten Wäldchen auf der Lauer und kehrte erst abends in sein Erdloch zurück.

,,Wäre ich nicht zu feige, hätte ich mich längst umgebracht'', erzählt Steinke.  Heute ist er froh, dass er nicht wirklich den Mut dazu hatte.

Am 13. Juli hielt er die seelische Belastung und die Einsamkeit aber nicht mehr aus.  Er zündete Feuerwerkskörper und lockte die Polizei an.  Die nächste Wende in seinem Leben begann.


Scheu und Misstrauen gegenüber Fremden

In sein Erdloch will Steinke nie zurück.  Einfach abschütteln kann er sein Leben in der ,,Wildnis'' aber auch nicht.  Große Menschenansammlungen machen ihm heute Angst.  Fremden Menschen begegnet er mit Misstrauen.  Der scheue Mann wird nicht laut oder gar aggressiv, er bleibt auf Distanz und überlegt lange, ehe er sich artikuliert.  Wasser aus dem Hahn oder eine Dusche als Selbstverständlichkeit im Alltag hinzunehmen, muss er erst wieder lernen.  Viele Ecken in Luckenwalde hat er kaum wiedererkannt.

In der Obhut der Stadt bekam er eine Bleibe, Kleidung, Sozialhilfe und wurde zu Behörden begleitet.  Derzeit betreut ihn Siegmund Naue, Sozialarbeiter im Verein ,,Gefährdetenhilfe''.  Er kennt Steinke seit 20 Jahren und dachte, dass er verstorben sei.  ,,Als ich ihn jetzt traf, habe ich ihn gar nicht wiedererkannt'', sagt Naue.

Steinke braucht viele Dinge, die ihm die Stadt nicht bieten kann.  ,,Harald muss dringend zu einem Zahnarzt, braucht medizinische Fußpflege und professionelle kosmetische oder dermatologische Behandlung'', sagt Siegmund Naue.  Außerdem benötigt er Möbel für eine Wohnung, frische Unterwäsche, neue Kleidung.  Das alles ist von 280 Euro Sozialhilfe im Monat nicht zu bewerkstelligen.  Auch Geld oder die Bereitschaft, eine Leistung zu bezahlen, werden gern angenommen.

Die Stadt versucht indes alles, um das Schicksal ihres inzwischen bekannten ,,Verschollenen'' geheim zu halten und ihn vor der Öffentlichkeit abzuschirmen.  Der MAZ erteilte sie Hausverbot auf dem städtischen Grundstück, wo Harald Steinke zurzeit wohnt.


Wer Harald Steinke bei der Rückkehr in ein bürgerliches Leben helfen möchte, wendet sich an Siegmund Naue, (0 33 71) 61 01 51


Quelle: MaerkischeAllgemeine.de 25.7.2003   (http://www.maerkischeallgemeine.de/?loc_id=87&id=123063&weiter=255)
http://www.maerkischeallgemeine.de/?loc_id=87&id=123063&weiter=255
Zuletzt geändert von amo am 15.09.2013 um 01:12 Uhr.

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